Für ihre Doktorarbeit „Zeitgenössischer Satanismus in Deutschland“ hat die Religionswissenschaftlerin Dagmar Fügmann die Szene intensiv ausgeforscht. Bernd Harder sprach mit ihr über Satanskirchen, Selbstvergöttlichung und Sexualmagie.
Skeptiker: In einem Satanismus-Forum im Internet wird Ihre Dissertation als das „bisher objektivste Werk zum Thema Satanismus“ bezeichnet. Wie haben Sie sich dieses Lob aus der Szene verdient?
Fügmann: Gute Frage. Wahrscheinlich durch die in den theoretischen Ansätzen der Religionswissenschaft verankerte Prämisse, ergebnisoffen und, so weit dies möglich ist, wertneutral an Forschungsthemen heranzugehen.
Als Religionswissenschaftlerin arbeite ich nicht auf der Ebene von Fragen zum Beispiel nach wahrer oder falscher Religion beziehungsweise Weltanschauung, sondern vorrangig deskriptiv.
Durch diese Herangehensweise – und die ebenfalls religionswissenschaftliche Prämisse, dass sich beschriebene Personen in den Deskriptionen wiederfinden können sollen – wird eine Arbeit über Satanismus möglicherweise objektiver als jene, welche unter dem Blickwinkel bestimmter weltanschaulicher Urteile oder auch Vor-Urteile entstehen.“
Was verstehen Satanisten denn nun eigentlich unter „Satan“?
Das lässt sich pauschal nicht sagen. „Den“ Satanismus gibt es ebenso wenig wie „den“ Islam oder „das“ Christentum. Satanskonzeptionen existieren in diesem Feld fast ebenso viele, wie es unterschiedliche Gruppierungen gibt.
Die Church of Satan beispielsweise und alle, die sich an ihr Gedankengut anlehnen, definieren Satan als Symbol oder als Archetyp unter anderem für die triebbetonte Instinktnatur des Menschen. Andere Gruppen sehen in Satan beziehungsweise Luzifer den Rebell, der dem Menschen das Licht der Erkenntnis und Freiheit bringt.
Wieder andere, wie etwa der Temple of Set, sehen in Set – statt Satan – das am weitesten entwickelte Wesen innerhalb des Universums, das als Ausrichtungspunkt für die eigene individuelle Entwicklung dienen kann.“
Das eigentliche Grundelement ist der Kerngedanke, dass jeder Mensch sein eigener Gott sein kann. Welcher Typus von Personen fühlt sich besonders von satanistischem Gedankengut angezogen?
Auch hier lässt sich keine pauschale Antwort geben. Was die Gruppe von Personen anbelangt, die ich in meiner Forschung begleitet habe, kann ich sagen, dass es sich mehrheitlich um Personen handelte, die ein recht hohes Bildungsniveau aufweisen, beruflich häufig selbständig sowie überwiegend im Alter zwischen 30 und 50 Jahren sind. Also keine Jugendlichen.“
Satanisten sehen sich selbst gerne als harmlose, freundliche Zeitgenossen. Aber wie harmlos kann eine Weltanschauung sein, die der „triebbetonten Instinktnatur“ des Menschen huldigt? Was ja nichts anders heißt, als das Recht des Stärkeren zu propagieren und einen ausgeprägten Individualismus und Sozialdarwinismus zu pflegen.
Meinen Erfahrungen nach sehen sich Satanisten keineswegs unisono als harmlose Zeitgenossen. Wenn ein Satanist oder eine Satanistin zu seiner/ihrer Weltanschauung zugleich sozialdarwinistische Konzepte vertritt, dann ist den Betroffenen schon klar, dass dies nicht als harmlos gilt. Aber: Nicht alle Satanisten sind zugleich Sozialdarwinisten.
Wenn sie sich als solche bezeichnen, dann vor allem in Bezug auf Einstellungen, also etwa dass jedes Individuum bei gleichen Chancen für alle selbst verantwortlich dafür ist, wo es seinen Platz in der Gesellschaft findet. Dieser Platz ist nicht statisch, sondern soll durch Leistung erlangt und erhalten, bei Versagen wieder verloren werden können.
See AlsoSatanismus: Echte Religion oder bloß Verehrung des Bösen?„Hail Satan?“: Die Satanisten und der amerikanische TraumSatanisten definieren sich mehrheitlich als gesellschaftliche Elite und sind bereit, für eine von ihnen individuell angestrebte gesellschaftliche Position einiges zu leisten.“
Wieso nennen Satanisten sich dann nicht „Ego-Zentristen“ oder ähnliches?
Aus unterschiedlichsten Gründen, die jeweils mit bestimmten Konzeptionen zu tun haben, welche Satanisten mit dem Begriff Satan verbinden. Der Gründer der Church of Satan beispielsweise, Anton Szandor LaVey, beantwortete diese Frage so:
„My brand of Satanism is the ultimate conscious alternative to herd mentality and institutionalized thought. It is a studied, contrived set of principles and exercises, designed to prevent, and liberate from, the contagion of mindlessness which destroys innovation […]
Here are some reasons why it is called Satanism: It is most stimulating under that name, and self-discipline and motivation are easier under stimulating conditions. It means the opposition and epitomizes all symbols of non-conformity. It represents the strongest ability to turn liability into an advantage – to turn alienation into exclusivity. In other words, the reason it’s called Satanism is because it’s fun, it’s accurate and it’s productive.”
Wozu brauchen Satanisten den Satan?
Satanisten brauchen Satan nicht in dem Sinne, dass er sie zu irgendeiner Art von „Heil“ führen könnte oder ihnen irgendwelche Wünsche erfüllen soll. Satan wird im Satanismus auch nicht angebetet. Solche Formen von Satansverehrung bezeichnen Satanisten als Teufelsanbetung, die sie dezidiert von Satanismus unterscheiden.
Wie gesagt, Satan wird in keiner mir bekannten oder von mir untersuchten Form von Satanismus im christlichen Sinne verstanden. Er gilt also nicht als der Böse, als Verführer oder Lügner. Es finden immer positive Umdeutungen statt. „Satan“ ist in vielen satanistischen Deutungen eher als Symbol zu verstehen – etwa für eine Kraft, die in jedem Menschen existiert.“
Im Zusammenhang mit Satanismus ist häufig von der Entwertung unserer ethisch-moralischen Werte die Rede. Konnten Sie das auch so feststellen?
Es scheint mir etwas überzogen, von einer generellen Umwertung aller sozialverträglichen Werte im Satanismus zu sprechen. Zumindest bei den von mir interviewten Satanisten ließ sich das nicht pauschal feststellen, sondern lediglich in einigen Punkten. In den allermeisten Bereichen unterscheiden sich die Einstellungen von Satanisten wenig von denen, die repräsentative Umfragen für die deutsche Bevölkerung feststellen.
Es herrscht zum Beispiel Einigkeit darüber, dass der Sinn des Lebens darin besteht, das Beste aus seinem Leben zu machen. Auch sind sich Satanisten und „Normalbürger“ relativ einig, dass mehr Verantwortung beim Individuum und weniger beim Staat liegen sollte, und darin, dass es keine absoluten und klaren Maßstäbe für eine Einteilung in Gut und Böse geben kann. Die meisten Ansichten sind ziemlich Mainstream.“
Und die Abweichungen, die Sie angesprochen haben?
Feststellbare Unterschiede in den Wertvorstellungen zwischen Satanisten und Vergleichsgruppen gründen unter anderem darauf, dass Werte für Satanisten als kontextabhängig gelten, nicht als statisch. Individuelle Freiheit gilt ihnen als höchster anzustrebender Wert, bei gleichzeitiger Betonung von Eigenverantwortlichkeit, Leistung und Chancengleichheit.
Zum Teil werden stratifizierte Ordnungen bevorzugt, die Leistung und Bildung betonen. Eine starke Abweichung zeigt sich darin, dass eine Gleichheit aller vor dem Gesetz abgelehnt wird. Weitere Unterschiede zwischen Satanisten und anderen Gruppen der Bevölkerung bestehen bezüglich der Einschätzung bestimmter Verhaltensweisen, etwa was Homosexualität, Abtreibung oder sexuelle Freiheit angeht.
Vor allem beim Thema Homosexualität beziehungsweise sexuelle Freiheit zeigen Satanisten eine sehr tolerante Einstellung, die aber immer mit dem Hinweis verknüpft wird, dass jegliche Handlung für alle Beteiligten in Ordnung sein muss.“
Wenn Satanisten das Individuum verherrlichen – wieso gibt es dann überhaupt, Gruppen, Logen, Organisationsstrukturen?
In eine Gruppe eingebunden zu sein bedeutet ja nicht gleichzeitig die Aufgabe der eigenen Individualität. Wenn Satanisten sich in irgendeiner Form organisieren – und das trifft nicht unbedingt für die Mehrheit zu –, dann dienen diese Gruppen vor allem dem Gedankenaustausch und Zusammensein mit Gleichgesinnten.“
Also alles ganz harmlos?
Ich bin bei meinen Forschungen in der Szene mehrheitlich höflichen und häufig auch freundlichen Personen begegnet, zumindest nachdem zum Teil vorhandenes anfängliches Misstrauen abgeklungen war. Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich mich in keiner Art und Weise bedroht gefühlt habe. Anderen mag es anders ergehen, das kann ich nicht beurteilen.
Abstrahierend von persönlichen Erfahrungen könnte man jedoch für die bestehende Gesellschaftsordnung gefährliches Gedankengut bei jenen Satanisten identifizieren, die den Gedanken der Gleichheit aller modifizieren, indem sie ihn auf den Gedanken der gleichen Möglichkeiten für alle reduzieren. Gleichheit vor dem Gesetz beispielsweise wäre hier nicht mehr gegeben. Wobei die Ideen zum Thema ungleiche Rechte für unterschiedliche Schichten der Bevölkerung nicht genuin satanistisch sind.
Eine weitere Frage wäre, ob eine Gefahr für Einzelne und für die Gesellschaft darin liegen könnte, sich selbst im Satanismus ziemlich absolut zu setzen.“
Welche Bedeutung haben Rituale im Satanismus? Zum Beispiel Sexualmagie, was vor allem die Boulevardpresse stets besonders fasziniert.
Jede Gruppierung hat eine eigene Konzeption von Ritualen, ebenso wie jeder gruppenunabhängige Satanist. Recht verbreitet ist die Konzeption der Church of Satan, die Rituale im Sinne von Psychodramen definiert: Magie gilt als Möglichkeit zur Beeinflussung von Gegebenheiten mittels einerseits Ritualen, andererseits eher alltagspsychologischen Kniffen.
Die meisten Satanisten, die mir während meiner Forschung begegnet sind, haben allerdings keinen ausgeprägten ritualmagischen Ansatz. Viele praktizieren gar keine Rituale beziehungsweise Magie.“
Stichwort „Church of Satan“: Das Gedankengut dieser Organisation ist eng mit den gesellschaftlichen Stimmungen und Entwicklungen der ausgehenden 1960er-Jahre verbunden. Wie ist es ihr gelungen, bis heute nahezu unverändert zu bestehen? Und immer noch gut im Geschäft zu sein?
Eine einfache Antwort wäre vielleicht: Sie konnte sich in dieser Form halten, weil es immer noch viele Personen gibt, die das Gedankengut der späten sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts als erstrebenswerte Grundlage der eigenen Lebensgestaltung ansehen.
Im speziellen Fall der Church of Satan hat die Kontinuität ihrer Existenz vermutlich auch etwas mit der charismatischen Ausstrahlung des Gründers LaVey zu tun. Sein Nachfolger Peter H. Gilmore versteht es ebenfalls gut, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen.“
Mal abgesehen von diesem Show-Charakter der Church of Satan: Es scheint in der Tat so zu sein, dass die Einstellungen, die sich gesamtgesellschaftlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten herauskristallisiert haben, denen sehr ähnlich sind, die auch Satanisten individuell für sich schätzen. Wenn man etwa Bücher von manchen „Erfolgstrainern“ liest, könnte man stattdessen auch die „Satanische Bibel“ hernehmen.
Was beispielsweise Freiheit, Individualität und Leistungsorientierung anbelangt – ja. Ich würde vorsichtig sagen, dass Satanismus in seinen verschiedenen Ausprägungen durchaus allgemein präferierte Wertvorstellungen aufgreift, akzentuiert und mitunter intensiviert.“
Können Sie ausschließen, dass Ihre Interviewpartner nicht vielleicht eine Art „doppelte Buchführung“ praktizieren? Also der Wissenschaftlerin das erzählt haben, was möglichst vorteilhaft klingt, und sich innerhalb der Szene ganz anders gebärden?
Das kann man als Forscher nie völlig ausschließen, ebenso wenig wie Sie als Journalist.
Es sprechen aber einige Anhaltspunkte dagegen. Das stärkste Argument gegen ein bloß im Forschungskontext „konformes“ Verhalten ist der Verweis auf grundlegende Lehrinhalte satanistischer Gruppierungen und Organisationen. Warum sollten diese ihre Lehre in schriftlicher Form fixieren, wenn sie permanent danach trachten, massiv dagegen zu verstoßen?“
Das müssen Sie erklären.
Wir finden in den Lehren zum Beispiel einerseits die starke Betonung der Freiheit eines jeden Individuums – die jedoch dort ihre Grenzen findet, wo die Freiheit des Gegenübers anfängt. Und auch dort, wo es Gesetze und gesetzliche Regelungen einzuhalten gilt. Und das nur, um dann im praktischen Vollzug gegen jegliche Grundsätze der eigenen schriftlichen Lehraussagen, also sozusagen gegen das „Programm“, zu verstoßen?
Ein weiteres Argument ist, dass sich die häufig in der Sekundärliteratur beschriebenen Formen von Satanismus nicht objektiv nachweisen lassen. Und auch, unter Aspekten wie Logik und Plausibilität betrachtet, wohl nur schwerlich existieren könnten.“
Sie meinen damit populäre Bücher wie „Lukas – Vier Jahre Hölle und zurück“, in denen Praktiken und Rituale geschildert werden, die medizinisch gar nicht möglich sind. Zum Beispiel rohe Tierherzen zu essen.
Unter anderem solche Schilderungen wie die von Lukas meine ich. Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen und bereits in Frage stellen, ob die beschriebenen Gruppenstrukturen realiter existenzfähig wären. Es würde sich bei den beschriebenen Strukturen immerhin um logistische Meisterleistungen handeln, die im absolut Geheimen vor sich gehen.
Daneben gibt es schlicht keine ermittlungstechnischen Erkenntnisse beziehungsweise Anhaltspunkte für die häufig beschriebenen satanistischen kriminellen Gruppierungen.
Sie haben mit Ihrer Arbeit das Klischee von Satanisten als „Teufelsanbeter, Friedhofschänder oder perverse Kriminelle“ wohl widerlegt. Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Einzelfälle, in denen Satanismus eine Rolle bei Verbrechen zu spielen scheint.
In solchen Fällen handelt es sich um Kriminelle beziehungsweise um psychisch kranke Personen, die von sich sagen, dass sie Satanisten sind. Oder von denen behauptet wird, dass sie Satanisten seien. Satanist kann sich jeder nennen, und es ist nicht auszuschließen beziehungsweise in einigen Fällen so geschehen, dass es Personen gibt, die unter dem Label Satanismus Verbrechen begehen.
In den Lehren und Praktiken der bekannten satanistischen Gruppierungen und Organisationen finden sich hierfür aber keine theoretischen Grundlagen oder Anleitungen – weder für rituellen Missbrauch, noch für die Schändung von Kirchen und Friedhöfen oder die Störung der Totenruhe.
Nebenbei bemerkt: Der mexikanische Serienmörder Angel Maturino Resendiz will sich bei seinen Taten „wie ein Engel Gottes“ gefühlt haben – würde man seine Morde denn als „christliche Verbrechen“ oder als „christlich motivierte Verbrechen“ bezeichnen?“
Zum Weiterlesen:
- Hoaxilla #159 – ‘Satanistenmorde’ vom 4. Mai 2014
- Satanistenmorde bei Hoaxilla, GWUP-Blog am 5. Mai 2014
- Buchrezension: Satanismus und ritueller Missbrauch, GWUP-Blog am 5. Mai 2014